Die ballistische Kurve des Lebkuchens: Ein Wald-Protokoll
Anekdote // Weihnachten
Ort: Das Renovierungsobjekt (ehemals "Die Alte Villa").
Status: Weihnachten. Oder zumindest eine Simulation davon.
Die Villa hatte, nachdem wir sechs Monate lang ihr Innerstes nach außen gekehrt hatten, endlich aufgehört, uns wie Eindringlinge zu behandeln. Sie atmete jetzt ruhig. Der alte Dielenboden knarrte nicht mehr vorwurfsvoll, sondern eher zustimmend, wie ein satter Kater.
"Wir brauchen einen Baum", sagte meine Frau. Sie stand in der Küche, die wir erst letzte Woche fertiggestellt hatten, und hielt eine Tasse Tee so fest umklammert, als wäre es der letzte Anker in der Realität.
"Wir haben Bäume", sagte ich und zeigte aus dem Fenster. Der Wald, der zum Grundstück gehörte, begann direkt hinter der Terrasse. Er sah aus, als hätte jemand Puderzucker mit einer Schrotflinte verteilt.
"Einen drinnen", präzisierte sie. "Einen echten. Wir gehen ihn schlagen. Familientradition."
Ich sah meine Kinder an. Der Junge (8) trug einen Ninja-Anzug über der Thermowäsche. Die Schwester (5) hatte sich eine Taucherbrille aufgesetzt.
"Wir sind bereit für die Extraktion", sagte der Junge.
"Ich sehe alles", sagte das Mädchen durch das beschlagene Glas.
Wir gingen los.
Es ist eine physikalische Tatsache, dass Schnee Geräusche dämpft. Aber der Schnee in unserem Wald dämpfte nicht nur Geräusche, er schluckte die Realität. Sobald wir die Baumgrenze überschritten, veränderte sich die Atmosphäre. Es roch nicht nach modrigem Holz und Kälte, sondern nach... frisch gebackenen Waffeln und Ozon?
"Riechst du das?", fragte ich meine Frau.
"Zimt", sagte sie.
"Nein, das ist ionisierte Luft. Und Waffeln."
Wir stapften tiefer hinein. Die Bäume hier waren alt. Nicht deutsch-eiche-alt, sondern wir-haben-schon-gesehen-wie-Kontinentalplatten-kollidieren-alt. Ihre Wurzeln waren so dick wie Kleinwagen und wanden sich über den Boden wie schlafende Drachen. Moos leuchtete in einem Grün, das in der RGB-Farbskala eigentlich verboten sein sollte.
"Papa, da ist eine Bushaltestelle", sagte meine Tochter und rückte ihre Taucherbrille zurecht.
Ich wollte ihr erklären, dass es mitten im Forstbestand C4 keine Infrastruktur des ÖPNV gab, aber dann sah ich es auch. Ein verrostetes Schild. Ein kleiner Unterstand aus einem riesigen, ausgehöhlten Kürbis (oder war es ein Pilz?). Und daneben saß etwas.
Es war kein Tier. Es war auch kein Mensch. Es sah aus wie eine Mischung aus einer sehr dicken Katze und einer Kumuluswolke, die einen formellen Anzug trug.
"Guten Tag", sagte das Wesen. Es hatte die Stimme eines Radiosprechers aus den 50er Jahren. "Warten Sie auch auf den 14-Uhr-Express in den Norden?"
Ich spürte, wie mein rationales Gehirn versuchte, einen "Valoria Override" durchzuführen, aber der Phronesis-Code meldete nur: Error 404 - Biology not found.
"Wir suchen einen Baum", sagte meine Frau, völlig unbeeindruckt. Sie ist Pragmatikerin. Wenn eine Wolke im Anzug mit ihr redet, ist das für sie ein Kommunikationsproblem, kein Existenzproblem.
"Ah", sagte die Wolkenkatze und zog eine Taschenuhr aus dem Fell, die rückwärts lief. "Genehmigungsschein B-38 vorliegend?"
"Wir besitzen den Wald", sagte ich und versuchte, Autorität auszustrahlen.
Die Katze kicherte. Es klang wie das Rieseln von Kies in einem Brunnen. "Niemand besitzt den Wald, mein Lieber. Sie verwalten nur das Laub. Aber gut. Da heute der Tag der thermischen Expansion von Herzen ist..." – es zwinkerte – "...können wir eine Ausnahme machen."
Es schnippte mit den Fingern (oder Pfoten?). Der Wald teilte sich.
Was wir sahen, war technisch unmöglich.
Eine Lichtung, auf der es nicht schneite, sondern wo kleine, leuchtende Wesen – sie sahen aus wie wandelnde Reissäcke mit Augen – emsig damit beschäftigt waren, Tannenbäume zu frisieren.
Einer kämmte die Nadeln. Ein anderer polierte die Rinde. Ein dritter maß mit einem Geodreieck den Winkel der Äste.
alpha = 45°. Perfekte Symmetrie.
"Das ist die Premium-Abteilung", flüsterte der Junge ehrfürchtig.
"Sucht euch einen aus", sagte die Wolkenkatze. "Aber Vorsicht. Manche sind eitel."
Wir gingen durch die Reihen. Es fühlte sich an wie auf einem Gebrauchtwagenplatz, nur dass die Verkäufer Eichhörnchen mit Klemmbrettern waren.
Schließlich blieben wir vor einer Nordmanntanne stehen, die so perfekt war, dass sie fast künstlich wirkte.
"Die ist gut", sagte meine Tochter. Sie legte die Hand auf den Stamm. "Sie schnurrt."
Ich legte mein Ohr an die Rinde. Tatsächlich. Eine Vibration, etwa 50 Hertz.
"Ist das... Bio-Elektrizität?", fragte ich.
"Nein, Papa. Sie freut sich", erklärte meine Tochter mitleidig.
"Wir nehmen die", entschied meine Frau.
Ich holte meine Säge heraus. Ein solides Werkzeug, schwedischer Stahl. Ich setzte an.
Die Wolkenkatze hustete diskret. "Ähem. Wir sägen hier nicht. Das ist barbarisch."
"Wie dann?", fragte ich.
"Man bittet höflich."
Meine Tochter nahm die Taucherbrille ab. Sie sah den Baum an. Sie sagte etwas, das ich akustisch nicht verstand, aber es klang wie das Geräusch, wenn Schnee von einem Dach rutscht.
Der Baum erzitterte kurz. Dann zog er seine Wurzeln aus der Erde – plopp, plopp, plopp – schüttelte die Erde ab wie ein Hund das Wasser und... stand da. Auf seinen Wurzeln.
"Er kommt mit", sagte der Junge.
Der Rückweg war der Moment, in dem ich beschloss, meine Skepsis endgültig an der Garderobe abzugeben.
Wir gingen durch den verschneiten Wald.
Hinter uns lief, auf seinen eigenen Wurzeln watschelnd, eine zwei Meter hohe Nordmanntanne.
Neben mir schwebte die Wolkenkatze und erklärte mir die Vorzüge von Jazzmusik für das Wachstum von Nadelhölzern.
Als wir die Baumgrenze zur Villa erreichten, blieb die Katze stehen.
"Weiter darf ich nicht. Zonengrenze. Die Realität da drüben ist zu... eckig."
"Danke", sagte ich. Es kam mir absurd vor, aber ich fühlte eine tiefe Dankbarkeit.
"Nicht dafür", sagte das Wesen. "Denken Sie daran: Viel Wasser. Und ab und zu ein bisschen Coltrane auflegen."
Es löste sich auf wie Nebel in der Sonne.
Wir standen auf unserer Terrasse. Der Baum watschelte an uns vorbei, durch die offene Terrassentür, ins Wohnzimmer und setzte sich genau an den Platz, wo früher der Kaminofen stand. Er seufzte zufrieden und verwurzelte sich im Parkett (was mich normalerweise wegen der Renovierungskosten in Panik versetzt hätte, aber in dem Moment schien es okay).
"Habt ihr das auch gesehen?", fragte ich vorsichtig, um meine geistige Zurechnungsfähigkeit zu kalibrieren.
Meine Frau trank einen Schluck von ihrem Tee, der immer noch dampfte.
"Natürlich", sagte sie. "Der Baum hat Charakter. Aber er nadelt hoffentlich nicht."
Der Junge zog seinen Ninja-Anzug aus. "Papa? Die Katze hat mir was gegeben."
Er öffnete seine Hand. Darin lag kein Keks und keine Münze.
Darin lag eine Eichel, die leise, rhythmisch blau pulsierte. Wie ein kleiner Reaktor.
"Für nächstes Jahr", sagte er.
Ich schaute den Baum an. Ich schaute die pulsierende Eichel an.
Ich ging in die Küche, holte mir ein Glas Rotwein und beschloss, dass die Phronesis heute Pause hat.
"Soll ich Jazz auflegen?", rief ich ins Wohnzimmer.
Der Baum raschelte zustimmend.
[Anmerkung des Architekten:
Physikalische Anomalien wurden im Protokoll vermerkt. Wir wünschen eine frohe, irrationale Zeit.]


Schöne Geschichte mit einem Hauch von Ghibli-Zauber 😉 gefällt mir!
Herrlich verrückt. Gefällt mir. Und wer kennt sie nicht diese uralten Wälder, älter als die Zeit selbst?