Logbuch Eintrag: Die zwei Wächter auf der Nachtmauer
Anekdote // Typ I, Initiation // Thema: Rechthaben vs. Verantwortung
[Anmerkung des Architekten]
Jeder Text, den Sie hier lesen, ist ein einzelner Knotenpunkt in einem größeren, vernetzten System – dem Rotfuchs-Protokoll. Dieses System nutzt eine eigene, präzise Sprache, um maximale Klarheit zu schaffen.
Um zu vermeiden, dass die Lektüre zu dekonstruktivem Interferenzrauschen (einem Missverständnis aufgrund fehlenden Kontexts) führt, wird dringend empfohlen, zuerst das START HIER-Manifest und die Über-Seite zu analysieren.
Sie liefern die Karte für das Territorium, das wir hier gemeinsam erkunden.
[Ende der Anmerkung]
Es wird die Geschichte erzählt von zwei Wächtern auf der Nachtmauer. Die Mauer war kalt, eine feuchte, durchdringende Kälte, die durch das Leder der Stiefel kroch. Es war eine jener Nächte, in denen der Nebel so dicht war, dass er den Schall verschluckte und die Welt auf den Umkreis von zehn Schritten reduzierte.
Der junge Wächter, Corin, putzte das Mundstück seines Horns. Er war stolz auf sein Gehör, das scharf war wie ein Rasiermesser. Er konnte das Tappen einer Maus auf fünfzig Schritt Entfernung hören. Der alte Wächter, Gideon, stand reglos. Seine Hände, vernarbt und an das Holz des Langbogens angepasst, ruhten auf der Brüstung. Er blickte nicht in den Nebel. Er lauschte ihm.
Dann kam es. Ein Geräusch. Ein leises, trockenes Knacken, wie ein Ast, der unter einem schweren Stiefel bricht. Corin lachte leise. “Ein Wildschwein”, flüsterte er, ohne aufzusehen. “Oder nur ein alter Ast, der im Wind nachgibt. Sollen wir die Glocken läuten, weil der Wald atmet?” Er war zufrieden mit seiner präzisen, logischen Analyse.
Gideon rührte sich nicht. Er schloss nur die Augen. Das Geräusch kam wieder. Diesmal näher. Corin wollte gerade zu einer weiteren Erklärung ansetzen, als er ein anderes Geräusch hörte. Ein leises, geöltes schiiing, gefolgt von einem sanften thunk. Der alte Wächter hatte, ohne ihn anzusehen, einen Pfeil aus dem Köcher gezogen und ihn auf die Sehne gelegt.
“Alter Mann”, zischte Corin, “es ist nur der Wind. Eure Ohren sind müde. Ihr verschwendet Eure Kraft.” Gideon drehte den Kopf nicht. Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Raunen, das der Nebel fast verschluckte. “Deine Analyse ist exzellent, Junge. Du hast die Grammatik des Geräuschs perfekt seziert. Du hast recht.” Er spannte den Bogen, das Leder seines Handschuhs knirschte leise. “Aber du hast deine Aufgabe vergessen.”
Er blickte in die graue Leere. “Unsere Aufgabe ist nicht, recht zu haben. Unsere Aufgabe ist es, Wache zu halten. Und ein Wächter, der ein Geräusch hört, das er nicht sicher identifizieren kann, behandelt es als die Klinge eines Feindes. Nicht, weil er den Lärm fürchtet, sondern weil er die Stille der Stadt hinter sich liebt.”
Corin öffnete den Mund, um zu widersprechen. Er wollte die Logik seines Arguments verteidigen. Aber er schloss ihn wieder. Denn der alte Mann lauschte nicht mehr ihm. Er lauschte dem Nebel.
Der junge Wächter hatte gelernt, wie man eine Debatte über die Realität gewinnt. Der alte Wächter wusste, dass es seine Pflicht war, die Realität daran zu hindern, die Debatte zu beenden.
Dies war ein Protokoll
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